Als ich mich kürzlich wieder einmal mit Erich Kästner beschäftigt habe, bin ich auf den Titel des Buches „Die Kinderbuchbrücke“ von Jella Lepmann gestoßen. Ich dachte, es wäre ein altes Buch und habe es antiquarisch bestellt, erst als ich es in der Hand hatte, habe ich festgestellt, dass es 2020 erschienen ist, im Herbst vermutlich, wenn ich die Rezensionen richtig interpretiere. Ich bin so berührt, begeistert und beeindruckt von dem Buch, dass ich es euch unbedingt ans Herz legen möchte.
Die Kinderbuchbrücke
Im Mittelpunkt des Buches steht der Bericht von Jella Lepmann über ihr Leben und Engagement in der Nachkriegszeit, wann er in Deutschland erstmals erschienen ist, habe ich nicht bestätigt herausfinden, die erste amerikanische Ausgabe unter dem Titel „A Bridge of Children’s Books“ stammt aus dem Jahr 1969. Die Geschichte beginnt am 29. Oktober 1945, als Jella Lepman als Mitglied der amerikanischen Besatzer in einem Militärflugzeug von London nach Frankfurt flog – als „Berater für die kulturellen und erzieherischen Belange der Frauen und Kinder in der amerikanischen Besatzungszone“. Ihre Aufgabe war, sich um die Re-education der Frauen und Kinder, die zwölf Jahre im nationalsozialistischen Gedankengut gelebt hatten bzw. aufgewachsen waren, zu kümmern. Sie war unter anderem deshalb dazu ausgewählt worden, weil sie aus Deutschland kam, das sie 1936 wegen ihrer jüdischen Herkunft verlassen musste. Sie stellte bald fest, dass die Aufgabe groß und die Möglichkeiten klein waren. Die meisten Gebäude, in denen sich Menschen treffen konnten, waren zerstört und auch sonst wurden die Ressourcen gebraucht, um das Leben wieder in Gang zu bringen. Ihre Idee, die Umerziehungsmaßnahmen mit einer Ausstellung der besten Kinder- und Jugendbücher verschiedener Nationen zu beginnen, fand folglich nicht sofort Zustimmung. Aber sie blieb hartnäckig. Während der Antrag auf die Mittel für die Ausstellung seinen Weg durch die amerikanischen Behörden ging, setzte sie sich hin und tippte auf einer Schreibmaschine, die sie nur nach Dienstende des Hauptquartiers nutzen durfte, Briefe an Freunde, Kollegen und Vertretungen in aller Welt mit der Bitte, ihr für ihr Projekt „Internationale Kinderbuchbibliothek“ die besten Bücher ihres Landes zu spenden. Die erste Zusage kam aus Frankreich, es folgten viele weitere, u. a. aus Norwegen, wo die Verleger durch den Krieg selbst keine Bücher mehr hatten, aber die Kinder baten, Bücher zu spenden! Diese Bücher bilden den Grundstock der Internationalen Jugendbibliothek, die sich heute auf Schloss Blutenburg in München befindet! Jella Lepman erzählt, wie es ihr gelang, die passenden Räumlichkeiten für die Ausstellung zu finden und wie begeistert die deutschen Kinder schließlich in den Büchern blätterten. Ihr merkt schon, das Buch enthält viele Anstöße für Gänsehautmomente.
Deutschland in der Nachkriegszeit
Besonders interessant und wertvoll wird das Buch durch die zahlreichen Schilderungen des Alltags im Nachkriegsdeutschland und der Begegnungen, die Jella Lepmann während ihrer Zeit als Umerziehungs-Offizier hatte. Neben ihrer Kernaufgabe arbeitete Jella Lepmann in der Abteilung, die für Publikationen zuständig war, sie arbeitete in der Redaktion der Illustrierten „Heute“, die von der Militärregierung von 1946 bis 1948 herausgegeben wurde. Im selben Haus arbeitete auch Erich Kästner, solange er Leiter des Feuilletons der „Neuen Zeitung“ war, eine Aufgabe, die später seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle übernahm. Und so bin ich auf das Buch aufmerksam geworden, weil er in der Nachkriegszeit Jella Lepman beim Aufbau der Jugendbibliothek half und eine Buchidee von ihr realisierte: „Die Konferenz der Tiere“, nicht sein sprachlich bestes Buch, wie ich finde, aber die Idee ist hübsch, es hätte nach Vorstellung von Jella Lepman bereits bald nach Kriegsende erscheinen sollen, wurde allerdings erst 1949 veröffentlicht. Die Begegnungen mit Erich Kästner sind nicht die einzigen, die mich fasziniert haben, Jella Lepman traf Theodort Heuss und Elly Heuss-Knapp, Eleonore Roosevelt und andere Menschen, die immer gleich Ehrfurcht hervorrufen, wenn der Name fällt. Ich gebe zu, für mich war es auch spannend, wieder gedanklich in die Nachkriegszeit einzutauchen, vor 30 Jahren hat mich das Thema täglich begleitet, als ich meine Dissertation über Erich Kästners Zeitschift „Pinguin“ geschrieben habe. Es wird auch vor allem die Nachkriegszeit in der amerikanischen Besatzungszone beschrieben, aber auch erste Reisen durch Deutschland und in die Welt. Am Ende macht das Buch Mut, sich für eine Idee zu engagieren, Mitstreiter zu suchen und nicht aufzugeben.
Die Autorin und Journalistin Jella Lepman
Als ich – beseelt von der Lektüre – eine Stuttgarter Freundin fragte, ob sie Jella Lepman kennt, antwortete sie sinngemäß: „Ja, aber ich weiß nicht, wer sie war.“ Sie kannte den Namen vom Straßenschild in Stuttgart, dort ist Jella Lepman nämlich am 15. Mai 1891 als Jella Lehmann geboren. Sie war die Tochter eines jüdischen Fabrikanten, besuchte das Königin-Katharina-Stift, wie alle Mädchen aus Familien, die etwa auf sich hielten und heiratete 1913 einen Stuttgarter Fabrikanten. Nach dem ersten Weltkrieg bekam sie zwei Kinder, kurz darauf starb jedoch ihr Mann an den Folgen einer Kriegsverletzung und sie war gezwungen, sich eine Arbeit zu suchen, weil das Geld aus der Lebensversicherung durch die Inflation schnell seinen Wert verlor. Sie hatte Glück und bekam als erste Frau eine Anstellung beim Stuttgarter Neuen Tagblatt, nebenher schrieb sie ein Kinderbuch und ein Theaterstück und kandidierte zusammen mit Theodor Heuss für die Deutsche Demokratische Partei für den Reichstag, ohne Erfolg allerdings. 1933 verlor sie als Jüdin ihre feste Stelle, bis 1935 arbeitete sie als freie Mitarbeiterin für die Zeitung und emigrierte 1936 nach London, wo sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, bis sie von der BBC und dem amerikanischen Sender ABSIE engagiert wurde, wo sie nach dem Krieg jener Colonel antraf, der sie für die Mission in Deutschland gewinnen sollte. Durch diese Aufgabe hatte sie ihr Ziel gefunden,die Verständigung der Völker durch Kinder- un d Jugenbücher. Bis 1957 war sie Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek, 1951 organisierte sie einen internationalen Kongress zu ihrem Herzensthema, dort wurde auf ihre Anregung hin der Grundstein gelegt für das International Board on Books for Young People (IBBY), das 1953 in Zürich gegründet wurde, auch der Hans-Christian-Andersen-Preis, der seit 1956 verliehen wird und die Zeitschrift „Bookbird“ gehen auf ihre Initiative zurück. Jella Lepman verbrachte ihren Lebensabend in Zürich, wo sie am 4. Oktober 1970 verstarb. Was ich hier mit Fakten zusammengefasst habe, findet sich teilweise in Rückblenden in der Autobiografie von Jella Lepman und teilweise in der biografischen Aufarbeitung ihres Lebens von Anna Becchi in dem Buch aus dem Kunstmann-Verlag – sehr interessant sind übrigens auch die Anmerkungen, in denen an viele Menschen erinnert wird, die man nicht täglich im Kopf oder längst vergessen hat. Eine äußerst empfehlenswerte Lektüre, trotz der gelegentlich ernsten Momente unterhaltsam und informativ. © 2022 Dr. Birgit Ebbert www.kaestner-im-netz.de