Der Gang vor die Hunde (Erich Kästner)

Heute vor 115 Jahren ist Erich Kästner geboren. Er ist einer der Schriftsteller, deren Wirken durch die Nationalsozialisten erheblich beeinträchtigt wurde. Angesichts der ungebrochenen Popularität seiner Kinderbücher fällt es den wenigsten auf, dass er sich nach 1945 zunächst sehr engagiert hat, um Kultur und Demokratie in Deutschland wieder ideologiefrei zu machen. Als er jedoch spürte, dass viele Mitläufer und NS-Funktionäre wieder an Einfluss gewannen, zog er sich mehr und mehr zurück. Er trat noch als Redner bei Demonstrationen und Veranstaltungen auf, doch seine Nachkriegswerke haben die Frechheit der 20er- und 30er-Jahre nie wieder erreicht. Kein Wunder, dass viele nicht glauben können, dass Kästners Werke von den Nazis verbrannt und verboten wurden. Vermutlich würde es keine glauben, tauchte nicht sein Name als einer von 15 Intellektuellen und Schriftstellern in den Feuersprüchen auf. Eine Lektüre der Gedichte, von denen viele heute aktuell sind wie vor fast 100 Jahren, und des Romans „Fabian“ zeigen, dass Kästner mehr war als ein Autor von Kinderbüchern. Er hat mit seinen Texten die Zeit eingefangen und so liest sich die Neuausgabe des „Fabian“ in seiner Ursprungsfassung wie ein Sittengemälde der 20er Jahre. Der Roman ist unter dem von Kästner vorgesehenen Titel „Der Gang vor die Hunde“ 2013 bei Atrium erschienen. Im Anhang des Buches finden sich editorische Anmerkungen zu der veröffentlichten Fassung im Vergleich zur bis dato publizierten Version. Eher ein Schmankerl für Kästner-Fans oder Experten, die das Buch aber vermutlich wie ich parallel zu einer alten Ausgabe lesen werden. Ich habe den Roman für meine Dissertation sehr sorgfältig gelesen, musste ich doch nachweisen, welches Menschenbild und welche Vorstellung von Erziehung Kästner hatte. So kommt es, dass meine Ullstein-Ausgabe mit Klebezetteln und Markierungen versehen ist. Zum Glück habe ich alle Zitate meiner Dissertation in der aktuellsten Ausgabe wiedergefunden und muss meine Arbeit nicht umschreiben.

Wer Erich Kästner nur von seinen Romanen „Drei Männer im Schnee“ oder „Die verschwundene Miniatur“ kennt, wird sich bei der Lektüre von „Der Gang vor die Hunde“ so manches Mal wundern. Das erklärt Kästner in dem „Nachwort für Sittenrichter“: „Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er läßt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andere Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt.“ (S. 233)

Jakob Fabian und sein Freund Stephan Labude erleben in Berlin Anfang der 30er Jahre alles, für das die Weimarer Republik berühmt ist: freie Liebe, politische Kämpfe und wachsende Arbeitslosigkeit. Zunächst geht es Jakob Fabian gut, er hat einen interessanten Job als Werbetexter, der ihm sein Auskommen verschafft und eine neue Freundin, einen Freund aus gutem Haus, mit dem er über dringend nötige gesellschaftliche Verhältnisse sinnieren kann und eine Mutter, die sich für ihn einsetzt. Dann wird ihm plötzlich gekündigt und auf einmal sieht er sich im Kreis derer, die Arbeit suchen, vom der Stütze leben und mit ihrer Stempelkarte im Amt erscheinen müssen. Dennoch lehnt er das Angebot einer ehemaligen Geliebten ab, in ihrem Männerbordell als ihr Assistent zu arbeiten. Lieber schreibt er Bewerbungen und erniedrigt sich bei der Jobsuche. Doch das Schicksal hält weitere Aufgaben für ihn bereit. Sein Freund Stephan Labude nimmt sich das Leben und seine Freundin verlässt ihn, noch eher sich an das Zusammensein mit ihr gewöhnen kann – mit seinem letzten 100-Mark-Schein. Er beschließt, wieder zu seinen Eltern zu ziehen und sein Leben zu ändern. Zu spät.

Die Story um Jakob Fabian kannte ich natürlich. Aber es sind doch gut 20 Jahre vergangen, seit meiner letzten Lektüre. Von einigen Zitaten bei Vorträgen über Erich Kästner abgesehen. Erneut verblüfft haben mich die kleinen Bezüge zu anderen Werken Kästners in Formulierungen wie „Der Globus hat die Krätze“ oder die Formulierung „Muttchen“, die Kästner seinem Jakob Fabian in den Mund legt. Interessant fand ich aber vor allem jene Stellen, die das Leben der Menschen in den 30er Jahren schildern, die Höhe des Arbeitslosengeldes, aber auch die Streiks und Bürokratie. An manchen Stellen habe ich mich sogar gefragt, ob der Herausgeber der neusten Ausgabe die Geschichte womöglich aktualisiert hat. Hat er nicht. Ähnlichkeiten zwischen dem Roman und dem Leben heute zeigen vielmehr, dass „Der Gang vor die Hunde“ ein Klassiker ist. Besonders amüsiert hat mich eine Stelle, die ich in meiner Ausgabe nicht gefunden habe und die heute gelegentlich wieder diskutiert wird: „Ein moderner Kinderphysiologe hat sich meine Ansicht, ohne sie zu kennen, zu eigen gemacht und fordert deshalb die Verlegung des Schulbeginns auf neun Uhr. Die Langschläfer sind, trotz Fleiß und Ehrgeiz, in den zeitigen Morgenstunden arbeitsunfähig. Testprüfungen haben das bestätigt.“ (S. 25)

Eine (erneute) Lektüre lohnt sich auf jeden Fall. Vielleicht zum 115ten Geburtstag von Erich Kästner. © Dr. Birgit Ebbert www.kaestner-im-netz.de