Natürlich kannte ich den Namen Herti Kirchner, seit ich meine Dissertation über Erich Kästner geschrieben habe. Allerdings habe ich mich nie vertiefend mit ihr beschäftigt, weil sie für mein Thema, die Jugendzeitschrift aus der Nachkriegszeit, nicht bedeutsam war.
Im vergangenen Jahr dann meldete sie sich bei mir. Nicht sie persönlich, aber ein Angehöriger, der Jahre zuvor begonnen hatte, sich intensiver mit der Verwandten, die er nie kennengelernt hatte zu beschäftigen. Ihm war und es ein Anliegen, dass die Erinnerung und vor allem der Nachlass Hertis nicht in Vergessenheit gerät. Die Unterlagen und Materialien, die ein ganzes Zimmer füllen, werden in absehbarer Zeit dem Stadtarchiv Kiel übergeben. Ich hatte im letzten Jahr Gelegenheit, ihn in Teilen zu sichten. Dabei habe ich mich zunächst auf ihre Briefe und den Schriftwechsel mit Verlagen beschränkt, weil diese mir durch die Kästner-Brille am interessantesten erschienen. Nun verfüge ich über Fotos von den Briefen, die ich – wann immer die Zeit es mir erlaubt – abtippe, um sie leichter verarbeiten zu können. Kein leichtes Unterfangen, denn manche Briefe sind in Sütterlin geschrieben, was verbunden mit der individuellen Handschrift, eine echte Herausforderung ist.
Vor meinem Besuch bei Hertis Angehörigen hatte ich schon begonnen, mich über sie zu informieren. Außer dem Wikipedia-Eintrag fand sich nur wenig. Immerhin einige Fotos, von denen ich mir eines bestellt habe, um mich von ihr inspirieren zu lassen. Als ich dann ihre Briefe las, hat sie mich immer mehr fasziniert. Ihr flapsiger Stil hat mich an meinen eigenen Briefstil in jenem Alter erinnert. Nur, dass sie 50 Jahre vor mir viel mutiger war, sich gegen Konventionen zu stellen. Das hat mir hohen Respekt abgenötigt. Selbst in der Generation meiner Mutter kenne ich keine Frau, die einen ähnlich ungewöhnlichen Lebensweg hatte. Für mich ist Hertis Leben ein Beispiel dafür, dass Deutschland vor dem zweiten Weltkrieg sehr viel fortschrittlicher war als in der Nachkriegszeit.
Und dann saß ich in dem Kellerraum und hörte auf dem alten Grammophon, auf dem auch Erich Kästner Schallplatten abgespielt hatte, Hertis Schallplatten. Ich betrachtete den Schrank, die Lampe und andere Möbelstücke, die den Krieg überlebt hatten und die früher in Hertis Wohnung gestanden hatten, in der teilweise auch Erich Kästner gelebt hatte. Ich blätterte in der dicken Mappe mit Zeitungsausschnitten und Porträts aus Filmzeitschriften und spürte, dass sie mit 25 Jahren bereits unglaublich viel erreicht hatte. Sie muss ständig gearbeitet haben. Das wird auch in den Briefen deutlich, in die ich mich einen ganzen Tag vertieft habe. Sobald ich den Blick hob, schaute ich auf das Foto, das neben ihrem Bett gestanden hatte und einen Schnappschuss zusammen mit Erich Kästner.
Außer den Briefen habe ich ihre Notizblöcke mit den Manuskripten der Kinderbücher, eines Filmtreatments und einiger Kurzgeschichten durchgeblättert. Einige Geschichten waren abgeschrieben und eine wurde in einer Filmzeitschrift veröffentlicht.
Ein merkwürdiges Gefühl war es, die Nachrichten der NS-Organisationen in den Händen zu halten. Natürlich habe ich über die Reichsschrifttumskammer gelesen, aber eine Notiz mit dem Briefkopf im Original vor mir zu sehen, das rückte das Ganze noch näher an unsere heutige Zeit heran.
Inzwischen, so habe ich erfahren, sind weitere Briefe aufgetaucht und die Mappen mit den Presseberichten über Herti habe ich auch noch nicht gesichtet. Sobald ich Zeit finde zwischen den aktuellen Projekten werde ich mich noch einmal auf den Weg machen. Und nebenher weiter darüber nachdenken, wie ich dieses Engagement der jungen Frau für die Nachwelt festhalten kann, auch wenn 75 Jahre seit ihrem Tod vergangen sind. © Dr. Birgit Ebbert www.kaestner-im-netz.de